Die Geschichte eines bayerisch-schwäbischen Tora-Schilds aus dem 18. Jahrhundert
Wie kommt ein Objekt ins Museum? Wer hat es vorher besessen und welche Geschichte(n) erzählt uns die Herkunft eines Objekts? Diese Fragen zu klären ist Aufgabe der Provenienzforschung. Seit 2021 erforscht das Jüdische Museum Augsburg Schwaben im Rahmen eines durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern geförderten Projekts die Herkunft seiner Silber- und Textilobjekte.
Anhand eines silbernen Tora-Schilds aus der Museumssammlung zeigen wir beispielhaft, wie dabei vorgegangen wird und welche erstaunlichen Ergebnisse nur wenige Hinweise hervorbringen können.
In der aschkenasischen (mittel- und osteuropäischen) Tradition ist das Tora-Schild Teil eines Ensembles, das die Tora-Rolle ziert, wenn sie nicht in Gebrauch ist. Ein mittig angebrachtes Feld dient zum Einsetzen einer beschrifteten Tafel, die den aktuellen Wochenabschnitt der Tora angezeigt. Darüber hinaus haben Tora-Schilder zumeist auch einen dekorativen Zweck und sind daher häufig aus wertvollen Materialien gefertigt und reich verziert.

Ein Augsburger Tora-Schild
Zu den ersten Schritten, um die Herkunft eines Objekts zu erforschen, gehört die sogenannte Objektautopsie. Dabei wird das Objekt auf Hinweise untersucht, die Aufschluss über die Herstellung und frühere Besitzer*innen geben. Informationen zum Hersteller und zum Entstehungszeitraum geben sogenannte Silberpunzen – Stempel, die auf Silberwaren angebracht sind, um Herkunft, Feingehalt sowie die Werkstatt oder den Meister zu kennzeichnen. Sie ermöglichen dadurch häufig eine eindeutige Identifizierung des Herstellers und oft auch eine zeitliche Einordnung der Objekte. Im vorliegenden Fall belegt die auf der Vorderseite angebrachte Meisterpunze, dass das Tora-Schild in der Werkstatt des Silberschmieds Hieronymus Mittnacht (1708–1769) gefertigt wurde. Anhand einer weiteren Punze mit der Zirbelnuss und dem Buchstaben P (für jedes Jahr wurden Buchstaben vergeben) lässt sich die Herstellung auf die Jahre 1761 bis 1763 in Augsburg eingrenzen. Diese Datierung stimmt mit der Gestaltung des Schildes überein, das stilistisch der Epoche des Rokoko zuzuordnen ist.
Eine Stiftung des Gemeindevorstehers Abraham Levi und seiner Frau Breindel
Eine hebräische Inschrift gibt weitere Hinweise auf die Geschichte des Tora-Schilds. Die dort eingravierte Widmung nennt als Stifter den „Gemeindevorsteher […] Herr Avraham, Sohn des Ch(aim) S(egal) und seine Gattin, Frau Breindel, Tochter des Aharon“.
Eine Recherche im Staatsarchiv Augsburg ergab, dass es sich hierbei um den Kaufmann Abraham Levi (ca. 1720–1804) und seine Frau Breindel (gest. nach 1804) aus Ichenhausen handelt. Abraham Levi übernahm während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) Truppenlieferungen an die österreichische Armee und gelangte auf diesem Weg zu Wohlstand. Von der herausgehobenen gesellschaftlichen Position, welche die Familie einnahm, zeugt nicht zuletzt das stattliche Wohnhaus, das die Familie am Oberen Markt in Ichenhausen (heute: Heinrich-Sinz-Str. 28) bewohnte. Darüber hinaus übernahm Abraham Levi wichtige Ämter innerhalb der jüdischen Gemeinde: Spätestens ab 1783 war er einer der vier Gemeindevorsteher. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass die Familie Levi das Tora-Schild für die Synagoge in Ichenhausen herstellen ließ.
Frühes Forschungsinteresse
Eine begleitende Recherche in der Fachliteratur bestätigte diese Vermutung. Denn das aufwändig gestaltete Tora-Schild weckte schon früh das Interesse der Forschung. Als Erster beschrieb es Heinrich Frauberger (1845–1920), Direktor des Düsseldorfer Kunstgewerbemuseums, in seiner 1903 erschienenen Publikation „Über alte Kultusgegenstände in Synagoge und Haus“. Die Arbeit Fraubergers war eine der frühesten, die sich aus kunsthistorischer Sicht mit diesem Thema befassten. Ergänzt wurden seine Ausführungen durch eine Zeichnung Albert Hochreiters, der zu diesem Zeitpunkt als Lehrer an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf unterrichtete. Wie Fraubergers Arbeit belegt, befand sich das Schild Anfang des 20. Jahrhunderts im Besitz der jüdischen Gemeinde in Ichenhausen. Dies bestätigen auch die Unterlagen des Kunsthistorikers Theodor Harburger (1887–1949), der in den 1920er Jahren im Auftrag des Verbandes Bayerischer Israelitischer Gemeinden eine Inventarisation der jüdischen Kulturgüter in Bayern vornahm.

Raub und Restitution
Über das weitere Schicksal des Tora-Schildes gibt eine Nummer auf der Rückseite Aufschluss. Die dort angebrachte Inventarnummer 9111 belegt, dass sich das Objekt zeitweise im Bestand der Städtischen Kunstsammlungen in Augsburg befand. Mithilfe dieser Inventarnummer konnte nochmals gezielter in Archiven recherchiert werden. Dort wurde herausgefunden, dass die Städtischen Kunstsammlungen das Tora-Schild gemeinsam mit anderen jüdischen Ritualgegenständen im Dezember 1939 vom Städtischen Leihamt Augsburg erwarben. Das Leihamt zog die Wertgegenstände ein, die im Rahmen der sogenannten „Silberzwangsabgabe“ von jüdischen Eigentümer*innen zwangsweise abgeliefert werden mussten. Auch die Gestapo (Geheime Staatspolizei) übergab dem Leihamt Kunst- und Kultusgegenstände, die sie beschlagnahmt hatte. Daraus ergibt sich, dass das Ichenhausener Tora-Schild zuvor – wie viele andere Ritualgegenstände aus Bayerisch-Schwaben – im Zuge der Novemberpogrome von den Nationalsozialisten geraubt worden war. Als diese am 10. November 1938 die Inneneinrichtung der Ichenhausener Synagoge zerstörten, beschlagnahmten sie systematisch auch die dort vorhandenen Ritualgegenstände.

Das Tora-Schild verblieb bis zum Ende des NS-Regimes 1945 im Besitz der Städtischen Kunstsammlungen. Nur wenige Monate nach Kriegsende wurde das Tora-Schild im Herbst 1945 zusammen mit anderen Ritualgegenständen an die neu gegründete Israelitische Kultusgemeinde in Augsburg zurückgegeben. Dies belegt die Inventarkarte des Objekts bei den Kunstsammlungen. Mit der Eröffnung des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg-Schwaben im Jahr 1985 wurde das Tora-Schild aus Ichenhausen in die Sammlung überführt und kann neben anderen silbernen Ritualgegenständen aus Augsburg heute in der Dauerausstellung bewundert werden. Für die Sammlung „Das jüdische Erbe Bayerisch-Schwabens. Kultur und Alltag des Landjudentums von 1560-1945“ wurde es kürzlich ausführlich dokumentiert und steht auf der Plattform bavarikon online zur Verfügung.
Christian Porzelt, 9. April 2025