Andrii Shestaliuk, wissenschaftlicher Mitarbeiter des JMAS, gibt einen Einblick in die Entstehung der vergangenen Sonderausstellung »Voices«, die jüdisches Leben in der Ukraine beleuchtet und bald in eine Online-Version überführt wird.

Vor etwa einem Jahr, im Juni 2022, kam ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Jüdische Museum Augsburg Schwaben. Zuvor hatte ich Geschichte und Archäologie an der Ukrainischen Katholischen Universität studiert und am Memorial Museum of Totalitarian Regimes »Territory of Terror« in Lviv in der Ukraine gearbeitet. Dank eines Stipendiums, das zum Teil von der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Stiftung Jüdisches Kulturmuseum Augsburg finanziert wurde, konnte ich von Augsburg aus die Erforschung der jüdischen Geschichte der Ukraine fortsetzen. Dies ist ein Thema, das auch mit der jüdischen Gemeinde vor Ort eng verbunden ist, denn etwa 50 Prozent der Augsburger Gemeindemitglieder haben ihre Wurzeln in der Ukraine.

Nach meiner Ankunft in Augsburg begann ich mit meiner ukrainischen Kollegin Daria Reznyk an der Ausstellung zu arbeiten. »Voices. Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens« wurde im Herbst 2022 eröffnet und umfasst mehr als hundert Jahre der Geschichte der ukrainischen Juden, vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum aktuellen russisch-ukrainischen Krieg. Die ursprüngliche Idee war, vorhandene Interviews mit Zeitzeug*innen verschiedener Ereignisse zu nutzen, um die Vielfalt des jüdischen Lebens in der Ukraine durch die Brille der Erfahrungen einfacher Menschen zu zeigen. Unsere ukrainischen Partner stellten die Interviews zur Verfügung: die »NGO After Silence«, das Urban Media Archive in Lviv und das Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew. Während der Arbeit an der Ausstellung wurde uns jedoch klar, dass wir weitere Interviews aufnehmen mussten, um das Bild zu vervollständigen und beschlossen, nach Interviewpartnern unter ukrainischen Jüdinnen und Juden zu suchen, die kurz zuvor nach Augsburg eingewandert waren.

Blick in den Ausstellungsraum in der Ehemaligen Synagoge Kriegshaber.

Der mehrsprachige Charakter der Ausstellung war eine Herausforderung. Die Interviews waren auf Ukrainisch, Russisch, Englisch und Polnisch. Die Kommunikation mit den Kolleg*innen des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben erfolgte überwiegend auf Englisch. Die Mehrsprachigkeit war aber gleichzeitig ein großer Vorteil: Um die Ausstellung möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, haben wir uns entschieden, alle Texte und Videos auf Ukrainisch, Deutsch, Englisch und Russisch zu präsentieren.

Eine weitere Herausforderung waren Interviews mit Zeitzeug*innen der aktuellen Ereignisse. Wir führten mit mehreren Menschen Interviews per Videoanruf. Aufgrund der anhaltenden Kampfhandlungen in der Ukraine wurden die Aufnahmen unter schwierigen Bedingungen durchgeführt. So nahmen wir beispielsweise ein Interview mit einer Psychotherapeutin und jetzigen Freiwilligen der gemeinnützigen Stiftung »Unbreakable Kharkiv« auf, als sie im Keller Pakete mit Hilfsgütern für die Menschen in der Region vorbereitete. In einem anderen Interview erzählte Yevhen Kotliar, Professor an der Charkiwer Akademie für Kunst und Design, dass er während der Evakuierung mit seiner Familie durch die Kleinstadt Medzhybizh fuhr. Während einer Pause ging Yevhen Kotliar schnell los, um die Grabsteine auf dem örtlichen jüdischen Friedhof zu fotografieren, da er befürchtete, dass das russische Militär diesen Ort erreichen und zerstören könnte.

Das Denkmal „Drobytskyi Yar“ wurde von russischen Truppen beschädigt. © Yevhen Kotliar

Schließlich waren 16 verschiedene Geschichten in der Ausstellung zu sehen. Sie veranschaulichen die fünf wichtigsten Perioden in der Geschichte der ukrainischen Juden in den letzten 100 Jahren. Diese sind die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkriegs, die Schoa, die Sowjetunion, die Unabhängigkeit der Ukraine und die damit verbundene Migration sowie der russisch-ukrainische Krieg, der viele Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat veranlasste.

»Voices« war von Oktober 2022 bis Februar 2023 in der Ehemaligen Synagoge Kriegshaber in Augsburg zu sehen. In diesem Zeitraum wurden mehrere öffentliche Führungen auf Ukrainisch, Deutsch, Englisch und Russisch organisiert. Zusätzlich fanden mehrere Veranstaltungen wie ein Konzert mit ukrainischen Volksliedern und ein Vortrag der deutschen Historikerin Franziska Davies, »Eine Einführung in die Geschichte der Ukraine«, statt. Den Abschluss der Ausstellung bildete eine öffentliche Online-Diskussion zwischen Forscher*innen und Vertreter*innen der ukrainisch-jüdischen und krimtatarischen Gemeinden, die sich mit dem Thema der gefährdeten Erinnerungskultur befasste.

Derzeit arbeite ich daran, die Ausstellung in ein Online-Format zu übertragen. Auf einer Webplattform werden wir alle vorhandenen Materialien online stellen. Auf diese Weise wird unsere Ausstellung einem internationalen Publikum zugänglich sein, das sie in Augsburg nicht besuchen konnte. Darüber hinaus ist es eine große Chance, dem bereits bestehenden „Mosaik“ neue Zeugnisse hinzuzufügen und so das Leben der ukrainischen Juden in seiner ganzen Vielfalt zu zeigen.

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